Vater, unser Vater
WIR SINGEN FÜR EINE BESSERE WELT: DAS VATERUNSER NEU INTERPRETIERT
von Dennis Thielmann
Wie kann das Unservater-Gebet heute verstanden werden? Dieses jahrtausendealte Gebet beinhaltet mehrere bedeutungsschwere Containerbegriffe wie «Reich», «Himmel», «Versuchung», das «Böse», «Herrlichkeit», usw., die ich zwar auswendig aufsagen, aber deren Bedeutung für mein Leben und unsere Welt in der jetzigen Zeit ich oft nicht konkretisieren kann.
Mit unserer neuen Lied-Adaptation des Unservaters haben wir versucht, eine Brücke zwischen der traditionellen Überlieferung und den Herausforderungen unserer modernen Gesellschaft zu schlagen. Unser Ziel war es, jeden Satz dieses so kraftvollen Gebets auch aus einer globalen Perspektive zu interpretieren und für unseren Kontext neu «auszudeutschen», um so einen ausdrucksstarken und inspirierenden Liedtext in moderner Sprache zu kreieren.
WORUM BITTEN WIR HIER KONKRET?
«Dein Reich komme, dein Wille geschehe» – Was erhoffen wir uns, dass hierbei passieren soll? Für mich sind diese Worte Ausdruck einer Sehnsucht nach mehr «Himmel auf Erden». Wenn mehr von Gottes Willen auf Erden geschieht, entsteht Frieden – innerer, wie äusserer. Menschen wenden sich dem Guten zu, soziale Gerechtigkeit wird geschaffen, Versöhnung, die Schöpfung gedeiht, die verwundeten Herzen heilen, und das Leben aller Menschen dieser Erde wird lebenswürdiger. Unabhängig ihrer religiösen oder kulturellen Herkunft.
«Unser tägliches Brot gib uns heute»? Brot fehlt uns nicht. Im Gegenteil. Während wir in der Schweiz mehr als ein Drittel der produzierten Lebensmittel verschwenden, leiden über 720 Millionen Menschen weltweit an Unterernährung. Vielleicht geht es bei der Erfüllung dieser Bitte nicht so sehr darum, dass Gott mehr Brot vom Himmel regnen lässt, sondern vielmehr um die Frage nach einer gerechteren Verteilung der Ressourcen unseres Planeten und welchen Beitrag wir dazu leisten können. Diese Sehnsucht nehmen wir in das gesungene Gebet mit auf.
«Führe uns nicht in Versuchung» – Papst Franziskus hat vor einigen Jahren eine lebhafte Diskussion entfacht, als er eine Neubewertung der traditionellen Übersetzung des Unservaters vorschlug. Im Zentrum steht die Frage, welches Gottesbild sich hinter dieser Formulierung verbirgt. Ist es Gott, der die Versuchungen auf dem Weg seiner Kinder auslöst? Laut Franziskus widerspreche eine solche Auslegung dem griechischen Urtext und auch dem Bild Gottes, das Jesus offenbart hat. Gott ist immer auf Seiten des Menschen. Er führt seine Kinder nicht in einen Hinterhalt. «Lass uns nicht in Versuchung geraten» oder «verlass uns nicht in der Versuchung» sind passendere Alternativen, laut Franziskus. In unserem Lied wollen auch wir diese Zeile als eine Bitte um Gottes Beistand in schwierigen Zeiten verstehen, und um Mut und Kraft in der Versuchung das Gute zu tun.
Das seit Jahrhunderten in vielen Kirchen rezipierte Unservater beginnt und endet mit einer Doxologie, also mit einem Ausdruck des Lobes Gottes. Wenngleich die letzten Zeilen «Denn dein ist das Reich und die Kraft...» usw. nicht originaler Bestandteil der ältesten und gewichtigsten Handschriften der Textüberlieferung des Unservater sind, haben wir sie im Refrain und im letzten Vers unseres Songs verarbeitet. Hiermit wollen wir die kraftvolle Wirkungsgeschichte und den Lobpreischarakter dieses Gebetes mitaufnehmen.
Wenn wir das Unservater singen, dann nicht nur
mit Blick auf Gott und unser eigenes Wohl, sondern wir schliessen das Wohlergehen aller Menschen, der Natur und der sozialen und wirtschaftlichen Systeme in dieses Gebet mit ein.
Unser Wunsch ist es, dass dieses Lied unsere Herzen und Stimmen verbindet, dass wir gemeinsam mit vielen Menschen Gott loben und immer wieder nach Möglichkeiten suchen, mehr von Gottes Liebe und Gerechtigkeit in unserer Welt sichtbar zu machen.
Vater, unser Vater - jetzt auf YouTube mit Lyrics
Dieser Artikel erschien zunächst im Bienenberg Magazin Winter/Frühling 2025